Gedichte - Texte - Essay

Unermessbar, Weite, nur
wenn wir zu messen trachten
was zu fassen unser Herz hier ward bestellt.

Unergründlich, Tiefe, nur
wenn wir ergründend loten
was uns Fallende als Grund empfängt.

Unerreichbar, Höhe, nur
wenn unsere Augen mühsam absehn
was als Flamme übersteigt das Firmament.

Unentrinnbar, Tod, nur
wenn wir zukunfts-gierig
eines Augenblickes reines Bleiben nicht ertragen.

Hannah Arendt

Das Denken des Todes und die vergessene Geburt

Essay von Alexander Tschernek
publiziert im Ausstellungskatalog "exitus. Tod alltäglich"
Künstlerhaus Wien, 2007 ISBN Künstlerhaus 3-900354-06-5

Kann man den Tod denken? In jedem Fall kann man ihn ahnen und um dieses Ahnen herum seine eigensten Gedanken bilden, die möglicherweise trösten und helfen, etwas Ordnung zu schaffen im verwirrten Geist, der um die Lösung des Rätsels "Tod" ringt. Unzählige Philosophien kreisen um den Gedanken und das Ereignis des Todes und fragen in die Hintergründe der Vergänglichkeit hinein - und nicht immer gelingt die "gute Frage", die nach wie vor die schönste Disziplin der Philosophie darstellt.

In der Wiege der abendländischen Philosophie, in Griechenland, gab Platon in seinem Dialog "Phaidon" die Devise aus, Philosophieren heiße Sterben lernen. Ein Gedanke, dem man immer wieder begegnen kann - auch Leonardo da Vinci äußerte sich dahingehend "Ich glaubte leben zu lernen, ich lernte sterben". Und nicht zuletzt bei Sören Kierkegaard trifft man auf die nachdrückliche Forderung, den "ernsten Gedanken des Todes ins Leben einzuüben". Und damit eröffnet sich bereits eine Reihe von Fragestellungen, wie es um das Denken des Todes bestellt ist.

Um es gleich vorweg zu sagen, ich kann "den Tod" nicht denken; ich kann an ihn denken, ich kann meine Empfindungen und Stimmungen, meine Trauer und meinen Schmerz betrachten, wenn ich erlebe, wie ein naher Mensch stirbt; ich kann mich selbst tot denken und mir meine Vergänglichkeit bewusst machen. Ich kann mich fragen, was nach dem Tode sei, ob ich an ein ewiges Leben glaube. Durchaus Er- und Bekenntnisse, die der Gedanke an den Tod fordert - und wer wollte behaupten, all diese Möglichkeiten wären es nicht wert be-dacht zu werden? Man will ihn ja verstehen, den Tod, man will ihn so weit wie möglich begreifen, damit er einen ins Leben ruft, denn meist stärker als die Todessehnsucht ist die Sehnsucht nach Leben. Diesem einen Sinn höchste Bewusstheit zu verleihen, kann als eine Aufgabe des Todes betrachtet werden. "Der Tod spricht: ich bin da, will jemand von mir lernen, so komme er zu mir" schreibt Kierkegaard. Um den Sinn des Lebens geht es also, wenn man den Tod in seinen Gedanken, vermutlich auch in seinem Herzen bewegt.

Es mag sein, dass unsere Zeit eine solche ist, die die Auseinandersetzung mit dem Tod in besonderem Maße verdrängt, aber letztlich ist eine derartige Behauptung oder Feststellung gleichgültig, wenn man sich denn auf den Weg macht, seine Zeit zwischen Geburt und Tod zu erkunden, um auf dieser Reise zu den Gründen seines Seins und Denkens zu finden - und zu sterben heißt ja nichts anderes als zu Grunde zu gehen. Wenn dieser Grund gefunden ist - wie sollte dort eine Angst walten. Oft ist Angst (die Angst vor dem Nichts?) die erste Reaktion im Bedenken des Todes, zuweilen wird sie mit der Angst vor den Schmerzen und dem Sterben verwechselt. Nun mögen die Philosophinnen und Philosophen viele allgemein gültige Gedanken äußern und geäußert haben, aber besonders im Umgang mit dem Tod zeigt sich, dass der Mensch auf das je Eigene geworfen ist und die Prüfung des innersten Wesens erlebt, das durch "fremde Worte" nicht gestört werden soll. Jedoch das Denken des Todes kann kein anderes als ein höchst persönliches sein, auch wenn es sich der Gedankengeländer bedient, die die Philosophie zur Verfügung stellt.

Auf zwei Philosophen möchte ich in diesem Zusammenhang im Besonderen eingehen: zunächst den bereits zitierten dänischen Philosophen Sören Kierkegaard, dessen Rede bei gedachter Gelegenheit "An einem Grabe" bei meiner philosophischen Lesereise zu diesem Thema größten Eindruck hinterlassen hat. Man darf Kierkegaard vielleicht als den ernsthaftesten Filou unter den Philosophen bezeichnen, dessen Gabe, in verschiedenste Rollen zu schlüpfen (ein Großteil seiner Werke veröffentlichte er unter aussagekräftigen Pseudonymen) es ihm ermöglichte, existentielle Phänomene von allen nur denkbaren Seiten her zu durchleuchten und selbst in den hintersten Fluchtstübchen, in die man sich bei der Lektüre seiner Schriften zurückziehen mag, noch eine Ansprache zu finden, der man sich kaum entziehen kann. Unermüdlich kämpfte der christliche Philosoph für die umfassende Mündigkeit des Individuums gegenüber den Institutionen, insbesondere der protestantischen Kirche und deren Vertretern. In der Rede "An einem Grabe" unterlässt er erstaunlicherweise jegliche Kirchenkritik und konzentriert sich ganz auf die gedanklichen Dimensionen, die sich aus dem "Ernst des Todes" ergeben. Einfühlsam beschreibt er (am Schluss der Rede) seine Geisteshaltung, in welcher er seine Mitteilungen unternimmt: "Mein Zuhörer, vielleicht bedünkt es dich, daß du durch diese Rede wenig zu wissen bekommst; du weißt vielleicht selber viel mehr, dennoch wird sie nicht vergeblich gewesen sein, falls sie bezüglich der Vorstellung von der Entscheidung des Todes der Anlaß geworden ist, daß du dich selbst daran erinnertest, es sei kein unbedingtes Gut viel zu wissen. (...) Der welcher hier gesprochen hat, er ist ja nicht dein Lehrer, er läßt dich ja nur, ebenso wie er selbst es ist, Zeuge davon sein, auf welche Weise ein Mensch es versucht, etwas von dem Gedanken an den Tod zu lernen, jenem Lehrmeister des Ernstes, welcher einem jeden durch die Geburt zum Lehrer fürs ganze Leben bestellt ist, und der jederzeit bereit ist, den Unterricht in der Ungewißheit zu beginnen, wenn es verlangt wird."

Kierkegaard will das innerste Wesen seines Zuhörers, seiner Zuhörerin nicht stören; er will vielmehr helfen, die eigenen Maßstäbe der Erkenntnis heranzubilden und die vielen möglichen Irrtümer im Bedenken des Todes aufzudecken und "aufzudenken". Nachdrücklich verweist er auf den oft unterschätzten Unterschied zwischen dem Ernst und der Stimmung, also dem Schmerz und der Trauer, die das Ableben eines nahen Menschen begleiten. Ohne die Stimmung zu missachten räumt Kierkegaard dem Ernst eine Vorzugsstellung ein, weil jener es gerade lehren würde "Maß zu halten mit Trauern und Klagen" und beschreibt damit den Trost, der in einer geordneten Gedanklichkeit zu erringen und zu finden ist. In feinen, kein Detail auslassenden, Skizzen zeichnet er den Weg der Versöhnung von Vernunft und Gefühl, das gerade in der heutigen Philosophie, zumindest derjenigen, die ihren Elfenbeinturm zugunsten einer ganzheitlichen Anschauung verlassen will, einen neuen Stellenwert erhält. Der Gewissheit, aber auch der Unvorstellbarkeit des Todes sei also mit einer "Einübung", vielleicht kann man sogar sagen mit einer Gewöhnung zu begegnen, auf dass die Entdeckung der Möglichkeit im Angesicht des Todes "Freiheit" zu denken im Leben ein stärkerer Motor werde als die sich selbst genügende Larmoyanz der Todesfürchtigen und Erlösungssüchtigen. "Sterben ist ja jedes Menschen Los, und insofern eine recht geringe Kunst, jedoch wohl sterben können, ist ja höchste Lebensweisheit. (...) So wird es denn der Ernst, jeden Tag zu leben, als wäre es der letzte und zugleich der erste in einem langen Leben; und die Arbeit zu wählen, die nicht davon abhängig ist, ob einem ein Menschenalter gegönnt wird sie recht zu vollenden, oder nur eine kurze Zeit sie recht begonnen zu haben."

Mit diesem Gedanken im Hinter- oder Vorderkopf lässt sich sowohl ein Fenster putzen, als auch ein Augias-Stall ausmisten. Soweit zu Kierkegaard.

Von einer ganz anderen Seite, der eben angesprochenen "Arbeit", nähert sich die Philosophin Hannah Arendt der Notwendigkeit des Denkens des Todes. Dem "Sein zum Tode" Martin Heideggers stellt sie das Faktum der Geburtlichkeit, der Natalität gegenüber und verlegt damit die Schwerpunkte der Philosophie, die sich hauptsächlich auf den Tod als Sinnstifter gestürzt hat. Arendt ist diejenige, die eine Philosophie der Geburt in Erinnerung ruft angesichts der Geburtsvergessenheit, von der das alltägliche und philosophische Denken geprägt ist. Denken und Handeln kann es ohne Geburt ja gar nicht geben. Den Gedanken des Todes missachtet Hannah Arendt dabei freilich nicht, verknüpft ihn aber auf ihre Art mit dem "Sein": im Januar 1956 schreibt sie in ihr "Denktagebuch": "Der Übergang von Leben ins Sein ist der Tod. Mit dem Tod bezahlen wir, daß wir sein können. Im Tod stellt sich heraus, ob wir lebend gewesen sind; nur dann können wir auch tot sein. Totsein heißt: in der Welt bleiben ohne Leben, also unabhängig von den irdischen Bedingungen, unter denen uns ursprünglich Existenz überhaupt gegeben ist." Den Preis nicht zahlen zu wollen, fände Arendt "schofel". Auch sie plädiert wie Kierkegaard für den mündigen, verantwortungsbewussten Menschen, der sich in der Welt des Handelns seine Freiheit und Unabhängigkeit erobern soll, um so der Fatalität des Todes zu entkommen, denn

"überläßt man die Angelegenheiten der Menschen sich selbst und greift nicht in sie ein, so können sie nur dem Gesetz folgen, das das Leben der Sterblichen beherrscht und sie von der Stunde der Geburt unabwendbar dem Tode zueilen läßt. Es ist genau an dieser Stelle, daß das Vermögen zu handeln einsetzt; es unterbricht den automatischen Ablauf des Alltäglichen (...). Ohne diese Fähigkeiten des Neubeginnens, des Anhaltens und des Eingreifens wäre ein Leben, das wie das menschliche Leben, von Geburt an dem Tode "zueilt", dazu verurteilt, alles spezifisch Menschliche immer wieder in seinen Untergang zu reißen und zu verderben. Gegen diese, natürlich immer bestehende, Gefahr steht die aus dem Handeln sich ergebende Verantwortlichkeit für die Welt, die anzeigt, dass Menschen zwar sterben müssen, aber deshalb noch nicht geboren werden, um zu sterben, sondern im Gegenteil, um etwas Neues anzufangen, solange der Lebensprozess das eigentlich personal-menschliche Substrat, das mit ihnen in die Welt kam, nicht zerrieben hat. (...) Daß man in der Welt Vertrauen haben und daß man für die Welt hoffen darf, ist vielleicht nirgends knapper und schöner ausgedrückt als in den Worten, mit denen die Weihnachts-Oratorien "die frohe Botschaft" verkünden: "Uns ist ein Kind geboren."

Mit diesen Worten beschließt Arendt das fünfte Kapitel über "Das Handeln" in ihrem zentralen Werk "Vita activa- oder Vom tätigen Leben".

Auch wenn der Tod in Anbetracht seiner Gewissheit etwas sehr Schlichtes ist, bleibt er, solange philosophisches Denken und gefühltes Erleben und Erleiden nicht Hand in Hand gehen, in Bezug auf seine Ungewissheit und Unerklärlichkeit ein Problem; lebenslang ein Rätsel, nach dessen Lösung die Aussage stehen könnte: Das entzifferte Schicksal wird das geglaubte Geheimnis.

Arendt und Kierkegaard sind nun zwei sehr persönlich ausgewählte Vertreter des Denkens, die mit ihren Mitteilungen ein Beispiel geben für Möglichkeiten und Aspekte der Auseinandersetzung und Forschung. Der Blick in andere Disziplinen wie die Religion oder Naturwissenschaft und in andere Kulturen - der nicht vergessen werden darf, auch wenn er hier nicht unternommen wird - belegt diese unvermeidliche Ausschnitthaftigkeit.

Ich glaube, Tod bedeutet immer auch Suche nach Trost - also sei er gewährt, wo immer er gefunden wurde. Und sollte in einem Trost ein Irrtum verborgen gewesen sein, so kann ich mich mit dem Gedanken trösten, dass der Irrtum nach meinem letzten Atemzuge entlarvt werden dürfte als das, was er ist. Spekulationen über das, was nach dem Tode sei, verbiete ich mir; doch dieses eine muss ich vom Tod wissen: Eine Wahrheit kommt ans Licht.

In der Stunde meines Todes
will ich sterben -
nicht vorher, nicht nachher.

Denken will ich nur Dank,
hören will ich den
letzten Schlag meines Herzens,
wie sein Klang versinkt
im immerwährenden
Schlag der Wellen des Meeres.

Mein Wissen bettet sich in
die Ahnungen meines Lebens,
die Ahnungen meines Denkens,
so daß ich vollständig bin -
in allen meinen Wunden

und also geheilt.

Mein tägliches Paradies
war mein lebendiges Herz.
Und wenn die Knochen trocken sind,
tanze ich am Saum der Zeit.

A.T. - Herbst 2007

Zitate aus:

SÖREN KIERKEGAARD
Gesammelte Werke und Tagebücher, 13. und 14. Abteilung "Vier erbauliche Reden 1844, Drei Reden bei gedachten Gelegenheiten 1845" - übersetzt von Emanuel Hirsch - Grevenberg Verlag Dr. Ruff & Co., Simmerath 2004

HANNAH ARENDT
"Vita activa oder Vom tätigen Leben" - Serie Piper Taschenbuchsonderausgabe 2002 "Denktagebuch" - Band eins und zwei - Herausgegeben von Ursula Ludz und Ingeborg Nordmann - Piper, München Zürich 2002