Gedichte - Texte - Essay




ZUVERSICHT - 10. Januar 2021

Zufriedenheit.
Zuversicht.
Zuschauen.
Zuschauen, wie das Leben geht.
Wie es kommt
und geht.
Wie es sich fügt und füllt.
Wie es sich Zacken aus der Krone bricht
und Zahnlücken zeigt.
Zumal dann doch
die Steine aufeinander bleiben
(können).

Kann mir jemand sagen, was ich denken soll?
ManchmalschonimGrundenicht.
Kann mir jemand sagen, wem ich danken soll?
DemGottderGüte schlicht.

Zuversicht - zuhaus - in mir.


ZAHLENKRISE - 4. November 2020
Fürs Sprechen geschrieben & veröffentlicht als "Podcast" auf Instagram

Was zählen Zahlen?
Ich vermute - die Zahlen zählen sich selbst. Zahlen beziffern Zustände: ein beträchtlicher Teil des Seins. Ot sind Zustände Zumutungen. Gegenwart ist auch ein mit Zahlen bezifferter Zustand. So weit, so gut. Wo führt mich das hin, in meiner aktuellen Zahlen-Krise? Täglich, in Mengen (!), erreichen mich Krisen-Zahlen, Wahl-Zahlen, Wachstums-Zahlen, Opfer-Zahlen - ich kann sie kaum erzählen - und sie erzählen mir: viel und nichts. Und ich kann ihnen kaum mehr vertrauen, weil Zahlen allein eben nichts erzählen können. Sie brauchen Zusammenhang. UNBEDINGT: Zusammenhang, Verbindung. Und: Relation und Relativität. Ich kann Ordnung, was eine ihrer Aufgaben ist, nur finden, wenn sie zugeordnet sind. Die gewiß existierenden höheren Weihen der Abstraktion und Mathematik bedenke ich hier erst einmal nicht. Zahlen können halt alles sein: absolut/losgelöst, relativ/verhältnismäßig, kreativ/verzaubernd - zum Vorteil und Nachteil. Zahlen sind wahrhaftig ALLROUNDER! Sie umkreisen das Geheimnis der Welt, das Geheimnis des Lebens. Dabei dürfen sie sich auch mal verzählen, die Zahlen - als großzügiger Mensch mit meinen Kleinlichkeiten gestatte ich ihnen dies. Und ich sollte und darf nicht vergessen, daß ich in jeder Krise, auch der Zahlenkrise, selber entscheiden kann, was für mich zählt: Kopf oder Zahl - Zufall oder Schicksal - Haß oder Liebe?

#alexandertschernek #philosophiepur #MI #menschlicheintelligenz #uswahl2020 #corona #terrorinwien


→ https://vimeo.com/475809221


Anlässlich der Ursendung von Philosophie Pur - HANDY AUS, HIRN AN!
Handschriftlich veröffentlicht auf fb und IG am 25.10.2020

1 Tag vor Ursendung HANDY AUS, HIRN AN! Es ist geheimnisvollgespenstisch: Vor einer Minute dachte ich, es wäre gut jetzt eine Freundin anzurufen und zum Geburtstag zu gratulieren. Eine Minute später erscheint ein „SIRI-Vorschlag“ auf dem Sperrbildschirm meines Handys. Hab ich ja noch nie bekommen – einen Siri-Vorschlag – so ungefähr „WeristSiri?“ – ich dachte, die wäre ausgeschaltet...! Der Vorschlag lautet (no wonder): die Freundin zum Geburtstag anzurufen. Eine „Erinnerung“, muß gesagt sein, war schon eingeschaltet. Gleichwohl der Eindruck, das Ding da liest meine Gedanken oder hört meine Gedanken – spooky. Und das nur einen Tag vor unserer Ursendung mit dem durchaus missionarischen Titel HANDY AUS, HIRN AN! Mehr muß dazu eigentlich nicht gesagt werden, oder? Es ist ABSURD! Außerdem bin ich jetzt glaube ich schon 40 (gefühlt 80) Stunden an der digitalen Bewerbung unseres Hörspiels für KINDER gesessen – facebook, Instagram, Stories, Webseite undundund... Was tun wir uns da an im verzweifelten Ringen um Aufmerksamkeit??? Mehr denn je plädiere ich für eine METANOIA, ein Umdenken – und muß mich freilich an der eigenen Nase fassen. Ich schicke gute Geddanken in den Äther und wünsche gute Besinnungen – liebe Menschen. Alexander
PS Weil meine Handschrift freilich auch eine Zumutung ist, werde ich den Text jetzt noch eintippen auf – PFEIL – tschernek.at – Blume


→ https://oe1.orf.at/programm/20201026/615363


DIE WUNDE UND DAS WUNDER DER GEGENWART
Gastkommentar in "Die Presse" - 21.12.2019

Immer liegt sie da vor uns. Die Zukunft. Brettlbreit. Sie ist ein bedenkliches Ding und sollte gerne Hoffnungsschimmer versprühen und lieber keine Sorgenfalten auf die Stirn vor unserem geplagten Hirn zaubern. Die Sorgen sind ja berechtigt – um die Zukunft der Welt, um die Zukunft der Menschheit. Vielleicht sollten wir aber auch die Zukunft der Zukunft mit ein paar würdigen Fragen behaften in einer Zeit, in der uns die Sicherheiten nur so dahinschwimmen?! Die Gegenwart hat immer ein paar Antworten parat im Rahmen der Besinnung einer eroberungsfähigen Gedankenfreiheit. Irgendwann habe ich gelernt, mich von fremden und eigenen Gedanken befreien und trösten zu lassen, von der Philosophie, vom Logos, und beschäftige mich seitdem mit der Vermittlung von Erkenntnisfreuden, gleichwohl auch die Erkenntnisschmerzen nicht zu verachten sind. Gerade die Weihnachtszeit sollte erfüllt sein von Jubelrufen und frohen Botschaften (Halleluja), aber Wirtschaft und Werbung, die mit vielen unsäglichen Worten zum Kauf aufrufen, machen einem das Vernehmen anderer Wahrheiten weiß-gott-schwer. Neben der Bilderüberflutung ist auch ein Wortlärm entstanden, dem schwierig zu entrinnen ist. Zu viele Töne, Miß- und Hasstöne in den unzählbaren Postings, die not-wendige Stillen vertreiben, die Gedanken manipulieren und Ängste bewirken und vergrößern, die noch nie gute Ratgeber waren. Da danke ich von Herzen den Philosophinnen (jüngst Regula Stämpfli, immer wieder Hannah Arendt, Platon und Kierkegaard), die mich zum eigenen und eher harmonischen Denken herausfordern. Denn Philosophie ist für mich die Musik der Ideen und Gedanken sind wie Töne, die wir nicht festhalten können, sondern in einer erfüllten Gegenwart immer wieder neu erringen und begründen dürfenmüssen. Nietzsche meinte ja, daß das Leben ohne Musik ein Irrtum sei. Ich erlaube mir, ihn ein bisschen weiterzudenken: Ohne Irrtum wäre das Leben Musik...

Ins Paradiesische hineinlauschend wünschte ich mir also, auf Vieles verzichten zu können in unserer belasteten Welt und wage dabei die Frage, ob ich mit meinen alltäglichen unnützen Worten möglicherweise nicht ebenso schlimmen Müll produziere wie mit den Joghurtbechern und Plastiksackerln aus dem Supermarkt? Die Zeit wird immer knapper bei dem vielen Entsorgen und Recyceln, dem nicht enden wollenden Lesen und Löschen von fast nur noch digitalen Wortnachrichten. Da will mir ein zunehmendes Schweigen, ein Verzicht auf Worte als ein schöneres Wachstum erscheinen als das der (für mich zu hoch gepriesenen) Marktwirtschaft. So liegt sie also immer in uns, die Gegenwart, gebettet zwischen Vergangenheit und Zukunft, mal schlummernd, mal zündend und wäre durchaus bereit, uns Tore zu öffnen in Gedankenländer, die uns so fremd nicht sein müssen. Dabei wartet sie uns entgegen, die Gegenwart, höchst geduldig und geheimnisvoll. Schließlich ist sie die einzige Zeit, die das Zeug zur Ewigkeit hat – Erlösungsangebote kosten- nicht aber preislos inbegriffen. Vor gut zweitausend Jahren soll uns ein Revoluzzer und Heiland geboren worden sein, sicher nicht der einzige; einer der gewiß auf viele Worte verzichtet hat und vor allem währende sprach, mutmaßlich solche, die seine Weisheits- und Liebesprüfung bestanden haben. Man muß ihm ja nicht nachfolgen, aber als Vorbild kann er mir schon dienen, wenn ich meine Umwelt nicht länger belasten, sondern fürnehmlich meinen Mitmenschen eine Bereicherung sein will – in jeglicher und einfacher Hinsicht. In jedem Fall aber scheint es mir in keinem anderen Bild als dem der ärmlichen Krippe mit den Herbergslosen besser dargestellt und erfasst zu sein: die Wunde und das Wunder der Gegenwart. (AT)


→ https://www.diepresse.com/5742019/die-wunde-und-das-wunder-der-gegenwart


ADEL VERLANGEN

Gunda Freifrau von Zitzewitz legte empört den Hörer ihres alten Telefons mit noch Wählscheibe auf. Für ihre Verhältnisse, also ihr sonst eigentlich gemäßigtes, in weiten Grundzügen freundliches Temperament, muß man sagen, sie knallte den Hörer auf. Schnaubend und murmelnd ging sie in die Küche und trank den letzten lauen Schluck Tee, der vom Frühstück noch übrig war, aus der zarten Porzellantasse, um daraufhin gleich wieder in der Wohnung herumzutigern, was sonst auch nicht ihre Art war. Gunda von Zitzewitz pflegte gewöhnlich unaufgeregt ihr Alter – vergangene Woche hatte sie ihren 92. Geburtstag in kleinem Kreis gefeiert – und ihren Alltag in bequemen Fauteuils vor Fenstern mit Ausblick zu genießen. Das Telefon mit Wählscheibe in Reichweite auf einem Beistelltisch und seit letzter Woche auch ein Mobiltelefon, das ihr Sohn Robert als geeignetes Geschenk erachtet hatte für die Sorgen, die er sich um seine Mutter machte, die sie für grundlos und überzogen hielt. „Gestorben wird immer!“ geruhte sie zu bemerken, als sie sich nach heftigen Diskussionen mit Sohn Robert auf den Deal eingelassen hatte, daß sie nur als Besitzerin eines Mobiltelefons mit großer Notruftaste aus dem Altersheim wieder zurück in ihre geliebte, vertraute Wohnung ziehen dürfe. „Gestorben wird immer! Egal, wo, wann und wie“, hatte sie mehrere Male in diversen Disputen mit Robert, auch in in Gesprächen mit ihren nicht minder besorgten Freundinnen, oft wiederholt. Außerdem habe sie einen schönen Tod verdient. Nach „so einem Leben“! Alles andere wäre ein Betrug von seiten Gott, bei dem sich sich selbst im Himmel noch würde beschweren wollen, sollte in ihren letzten Tagen nicht alles auf Erden so laufen, wie sie es sich wünschte und vorstellte.

Der klassische Oberschenkelhalsbruch hatte Gunda Freifrau von Zitzewitz, nachdem sich ihr rechter Knöchel in einer Schlinge ihres heillos verhedderten Telefonkabels verfangen hatte, vom Krankenhaus, wo man ihr nach einer postoperativen Lungenentzündung nur noch wenige Tage gegeben hatte, ins Altersheim bugsiert. Ein Zustand also, den sie trotz Schwäche und angedichteter Unzurechnungsfähigkeit freilich nicht hinnehmen konnte, sobald sie wieder bei Kräften war. Mit gut einem halben Jahr Krankenhaus und Altersheim war dieser Zustand eindeutig unhaltbar geworden und unter keinen Umständen mit der Würde des Menschen vereinbar. „Gestorben wird immer!“ rief sie zuweilen auch allein in der Wohnung, zum Frühstück, zum Tee, kurz vor dem Einschlafen. Wie ein Gebet und in Vorfreude auf einen schönen Tod, der gewiß manches aus ihrem Leben, das sie nicht verstanden, was ungerecht oder geheimnisvoll war, erhellen würde. „Gestorben wird immer... dochdoch: gestorben wird immer! Vielleicht“, dachte sich Gunda, „sollte das auf meinem Grabstein stehen“, ging zurück zu ihrem Telefon, wählte die Nummer ihres Sohnes Robert, um ihm dies mitzuteilen.


© Alexander Tschernek
Unterammergau, 4.4.2018





WUNDER LIEBEN LEBEN
Denkbrocken zu Weihnachten von Alexander Tschernek

Wunder gibt es immer wieder, heißt es. Wunder machen das Leben schöner, kann man glauben. Wunder habe ich noch nicht erlebt, möge eine Erfahrung sein. Der Möglichkeiten viele. Vielleicht sogar unendliche. Wenn ich an Wunder denke, stehe ich erst einmal vor dem großen Berg der Unmöglichkeit und will die Bagger rufen, ihn zu versetzen oder zumindest einen Tunnel zu graben, an dessen Ende ich ein Licht leuchten sehen will – irgendwann in der Zukunft. Irgendwann, nachdem vereinte Kräfte ihre Arbeit getan haben. Irgendwann, wenn die Hände blutig sind vom Kratzen im granitenen Stein der Unmöglichkeit. Doch jetzt – was mach ich jetzt?

Ich stehe, staune und denke. Ich denke an die Möglichkeit, daß die Unmöglichkeit völlig unmöglich ist, daß es möglich sein muß, der Unmöglichkeit den Garaus zu machen. Holla. Schon ein Freudensprung mit Denkkraft und Sprengkraft. Tagwerk und Nachtwerk kann ich in den Dienst der Erkenntnis stellen, daß Wunder möglich sind. Ein Blick hinter den schweren Vorhang des Denkens genügt und schon geht es los. Einsam, gemeinsam, wie auch immer. In der Gegenwart warten? Kommt nicht in Frage! Frisch gewagt ist halbgekonnt.

Es kann ja sein, daß es ein Wunder ist, daß ich morgens aufwache, es kann ja sein, daß es ein Wunder ist, wenn ich einen Fuß vor den anderen setze und mich bewege, es kann ja wunderbar sein, sich zu verlieben und dann zu lieben. Also lebe ich glücklich und zufrieden in der Wunde und dem Wunder der Gegenwart. An jedem Tag werden Menschen geboren, jeden Tag gibt es Wunder – denn Wunder lieben Leben. (AT)


→ WUNDER LIEBEN LEBEN auf Radio Ö1, mit Johanna Orsini-Rosenberg, Thomas Mauerhofer (Musik) und Alexander Tschernek
24.12.2014, 19.05 Uhr


WAS TUN NACH DER ORGIE?

Haben Sie schon einmal Geld aus dem Fenster geworfen? Ich ja: 1996 zwei Mark aus dem Zug zwischen Freiburg und Basel. Sonst nicht.

Der Umgang mit Geld ist ein höchst individueller: das Bedürfnis nach Sicherheit, die Freude am Genuss, das gute Wirtschaften. Der Umgang mit den eigenen Ängsten auch. Täglich werden in der Öffentlichkeit Schreckensbilder gezeichnet und Sicherheitsversprechen mit viel Geld beworben. Der Geist macht zuweilen einen Salto mortale und kennt sich in den Denkhirnwindungen seines Gastgebers nicht mehr aus und irrt herum. Orientierungslos. Fassungslos. Einerseits leben wir hier im größeren und kleineren Luxus auf der sicheren Seite der Erde und andererseits knapsen viele in bedenklichen Arbeitsverhältnissen herum und wehren sich gegen die gerne auch als „Qualitätssicherung“ verdeckte Versklavung ihrer Schaffenskraft. Und die Freiheit ist – seit Held Edward Snowdens Enthüllungen wissen es alle – sowieso längst in Gefahr.

Schauen wir dem guten alten Europa beim Untergang zu und tanzen auf dem Vulkan? Ja nun... Nein. Eigentlich nicht. Zumindest einige nicht: Christian Felber initiierte in Österreich das Projekt Bank für Gemeinwohl, Daniel Häni verkauft in Basel einen Safe mit acht Millionen Fünfräpplern zugunsten der Kampagne für das Bedingungslose Grundeinkommen und in Deutschland behauptet sich nun schon seit Jahren Gabriele Fischer mit dem Wirtschaftsmagazin brandeins, das sich unermüdlich der Erzählung geistvoll-alternativer Unternehmergeschichten widmet, um nur einige innovative Geister aus dem deutschen Sprachraum zu nennen. Und überall sprießt Hoffnung und Zuversicht. In den Science-Fiction-Filmen (den guten), die zunehmend wahr werden, gibt es diese Zuversichtlichen auch, die Denkenden, die Weisen.

In Anbetracht der dräuenden Zukunftsfragen wirkt ein Rückblick in die geistesgeschichtliche Vergangenheit Wunder. Schon Aristoteles singt in der Nikomachischen Ethik das Lob der Großzügigkeit, als wäre es einem heutigen Lebensratgeber entsprungen. Hannah Arendt verkündet in höchster ethischer und analytischer Klarheit in ihrem Werk Vita activa fast nur frohe Botschaften und Sören Kierkegaard rät, wie es so seine Art ist, unmißverständlich und radikal zum Sprung in den Glauben. Es ist eine alte Weisheit, dass Geld nicht glücklich macht, aber täglich tappt man doch wieder in diese Gedankenfalle und sieht ein Paradies mit Geldscheinen vor dem inneren Auge. Wie aber ist es wirklich um die Beziehung von Geist und Geld bestellt? Auf jeden Fall ist Geld ein bewußtseinsförderndes Medium und gutgemeint und gutbehandelt sogar materialisierte Liebe. „Was tun nach der Orgie?“ fragt Albert Camus in Der Mensch in der Revolte. Ich glaub, ich weiß es. Kleine Schritte machen und auf der Erkenntnisspur bleiben. Denken und umdenken. Das hilft.

Artikel in "Ö1 gehört" Februar 2014 zu CD & Lesung GEIST UND GELD UND GUTESLEBEN


ZUKUNFT IST AUCH EIN MÖGLICHER GRUND FÜR GEGENWART

Das Erinnern beschäftigt sich meist mit den Wahrheiten der Vergangenheit. Individuelle Wahrheiten sind geradezu unantastbar und entziehen sich eigentlich jeglicher Beurteilung - und doch muss, wenn es um das Verstehen, die Erkenntnismöglichkeit der menschlichen Gemeinschaft in Anbetracht des Holocaust geht, das Unbefragbare immer wieder befragt werden.

Niemand auch kein 'Nachgeborener' kann sich von den Verantwortungen der Geschichtlichkeit befreien. Das Leid, das Menschen Menschen zugefügt haben, ist nicht wegzuretouchieren; es hat sich als grausame Möglichkeit in das Wissen und Gewissen der Menschheit eingeschrieben und hat damit die Grenzen der Zeit aufgelöst. Die Wahrheit der Vergangenheit kann ich nicht rekonstruieren, ich kann sie nur in meine Gegenwart rufen und also erinnern. Das heisst, dass ich eine jegliche kleinste tägliche Schuld in mein Bewusstsein aufnehmen muss, um ihre Bedeutung für das 'Gute und Böse in der Welt' erkennen zu können.

Die Zukunft ist ungewiss, unbekannt und eine Hoffnung - und doch lässt sich etwas von ihrer Güte erahnen, wenn es gelingt, anzuerkennen, dass auch sie ein möglicher Grund für Gegenwart ist. Ebenso wie das Leid der Vergangenheit. Wenn ich mich also nicht mit meiner Gegenwart versöhne und sie liebe, kann ich nichts von der Wahrheit verstehen, die mich immerwährend umgibt und prüft - so wird das entzifferte Schicksal zum geglaubten Geheimnis.

Programmheftbeitrag zu MUTTERS COURAGE von George Tabori - Oktober 2011



BERICHT VON DER ERÖFFNUNG DES PHILOSOPHICUMS AM 17/18. SEPTEMBER 2011

Eine etwa 30 Jahre lang gehegte Idee von Stefan Brotbeck ist Wirklichkeit geworden - und vor 10 Jahren haben meine Gespräche mit ihm darüber begonnen. Wobei sich schon eines der wesentlichen Merkmale dieses Geschehens offenbart: Geduld. Persönliche Geduld einerseits, und andererseits, so möchte ich sagen, über-persönliches Erkennen und Erfühlen des Zeitenplans, der sich unserer direkten Einflußnahme entzieht. Dieses Eröffnungsfest im Allgemeinen und die Rede von Brotbeck im Besonderen waren für mich ein historisches Ereignis - ich zögere ein bisschen bei der Wahl des Wortes 'historisch', weil es sogleich in die Vergangenheit verweist und gewissermaßen eine geschichtliche Wahrheit impliziert, die der radikalen Gegenwart und den, in großem Bogen in die Zukunft gespannten, Visionen nicht gerecht wird. Die gedankliche Schärfe und das Wohlwollen der gesprochenen Worte kann ich hier nicht repetieren - aber ich kann freilich etwas von meinen Eindrücken schildern.

Brotbeck hat für das Philosophicum eine Schenkung erhalten mit der einzigen Auflage oder Bedingung, dass er nur das machen dürfe, was er für richtig halte ... Er beschrieb dies als "fast schon ein Dogma", da er sich nun ja mit keiner Entscheidung mehr verstecken könne und die Frage nach dem "Richtigen", dem Anspruch des Richtigen zu gewissenhaftesten und gründlichsten Prüfungen aufrufe. Ein Geschenk der Freiheit, das ihn (und uns Mitwirkende) an nichts geringeres bindet als an die Freiheit des Geistes, die Essenz des Geistigen. Dabei bedeute schöpferische Musse höchste Konzentration....

Und all dies hörte ich also in meiner manchmal etwas lauen, zuweilen leicht verzweifelten kulturellen Gegenwart, in der ich mir oft bis ständig die Frage nach dem Richtigen, dem Not-Wendigen auch stelle. "Klage nicht, handle!" heißt es in Hölderlins Hyperion - ich glaube, daß das Philosophicum ein Beispiel, ein Vorbild sein kann für ein Handeln, das die Verantwortung für die geistige Existenz im Angesichte eines 'Du' oder eines 'Wir' übernimmt, und eigentlich nur in einem Walten der Liebe gründen kann.

"Weil jeder Mensch auf Grund des Geborenseins ein i n i t i u m , ein Anfang
und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger
werden und Neues in Bewegung setzen" (Hannah Arendt)

Dies wollte ich berichten - und eigentlich noch mehr...



PROLOG zu "VIVE LA...!" - meinem Stück über Revolution mit Mann im Fernseher & Schlagzeugorchester

eingeladen zum Theatertreffen der Jugend 1996

AN DIE ÖFFENTLICHKEIT
Seit Jahren essen wir Kaffee und Kuchen und fragen uns, wie es mit den Schmerzen geht. Seit Jahren laufen wir aneinander vorbei und aufeinander zu. Seit Jahren setzen wir uns auseinander und wieder zusammen. Uns war von Anfang an klar, wir müssen reifer werden. Wir pochen auf Qualität, wir pochen auf Ernsthaftigkeit, wir schlagen uns mit der Zeit, wir schlagen uns die Türen auf und haben kein Verständnis für den Untergang. Wir befinden uns auf dem Boden der Realität, träumen unter möglicher Vermeidung von Illusionen weiter und verkaufen den Teil unserer Seele, der zur Abgabe vorgesehen wurde. Was wir wollen, zeigen wir, und was wir zeigen sollen, wollen wir. Wir können nicht mehr verraten. Wir sind ein Club, der sich nicht als Verein eintragen lassen kann. Wir sind jung, reich und wohlerzogen. Wir sind verwöhnt worden, ohne daß man uns danach gefragt hat. Wir wurden getauft und in Schulen gesteckt. Wir hätten lernen können, wie wir brav und still werden. Wir haben uns entschieden, daß wir kommen. Wir haben den Grund gefunden und die Verzweiflung noch nicht besiegt. Wir müssen reifer werden und sauber bleiben. Wir haben Sie noch nicht nach Ihrer Meinung gefragt. Wir können Ihre Meinung verkraften. Wir lernen Ihre Sprache, wir lauschen Ihren Lügen. Zur Not schreien wir. Wir schlagen Ihnen unseren Erfolg um die Ohren und lächeln dabei von unten. Wir tun nicht weh. Wir haben die Welt von vorn betrachtet. Wir lassen Sie allein und sind auch einsam. Wir verkörpern die letzten Gedanken und den letzten Schrei. Wir können auch wie Sie sein. Wenn Sie noch Fragen haben, helfen wir Ihnen gerne weiter.

Mit freundlichen Grüssen
Alexander Tschernek & friends