Über das Hören und die Philosophie

Essay von Dr. Christian Müller
Denkerische Grussworte an die Lesungsreihe "4x4 Philosophie Pur"
von Alexander Tschernek

Wenn Philosophie zum hörbaren Wort wird, so kann sich zeigen, dass dem Vorlesen und Zuhören eine eigentümliche Nähe zum Wesen der Philosophie selbst eignet. Auch wenn das Denken häufiger durch das geschriebene Wort vermittelt wird, liegt doch im Moment des Zuhörens eine weiter reichende Möglichkeit der Eröffnung der Räume des Denkens. Denn, wann beginnt das Denken? Das Denken der Philosophie - dies zunächst gesetzt - beginnt in dem Moment, in dem wir aufhören zu denken - so zu denken, wie wir es gewohnt sind zu denken. Schon Sokrates führt seine Zuhörer, wenn auch oft etwas gezwungen, zunächst zu dem ihnen Vertrauten. Darin ließ er sie eine Zeit lang sich sicher fühlen, bis er ihre Vormeinung abrupt als der Sache unzureichend sie selbst erkennen ließ. In diesem Bruchmoment, in dem das Vertraute wegschwimmt, beginnt das eigentliche Denken der Philosophie. Deshalb sagt Sokrates, dass er weiß, dass er nichts weiß, weil er weiß, was es bedarf, um zum Denken zu gelangen - das Nichtwissen.

Um diesen Bereich des Denkens anzustimmen, bedarf es der Thematisierung des gewohnten Wissens, weil dies selbstverständlich mitläuft, wenn wir etwas hören und vermeinen zu verstehen. Erst wenn dieses Selbstverständliche wach wird, kann es fallen gelassen werden. Und es ist ständig da, solange wir das Gehörte mit dem uns schon Bekannten vergleichen und froh sind, dass wir etwas Bekanntes erkennen. Da wir dies in jedem kleinen Wiedererkennen vollziehen, so vollziehen wir es auch selbstverständlich, wenn wir Gedachtes hören. Jedoch kann gerade das Zuhören besonders jenen anderen Raum des Denkens eröffnen, gerade weil wir zuhören und unsere Gedanken fallen lassen können im Angesprochenwerden von dem Gehörten.

Wenn das Zuhören in jenem anderen Raum des Denkens sich bewegt, worin bewegt es sich dann? Es bewegt sich im Fremden, Fragwürdigen. Es weiß noch nicht, was kommt. Und gerade damit vollzieht es etwas von der eigentümlichen Bewegung des Denkens der Philosophie. Denn etwas Anstoßendes, Neues in der Philosophie kann sich der Sache nach nur dann ergeben, wenn das Gewohnte und Gewusste verlassen wird. Sonst verfolgen wir nur die Gedanken eines Anderen und sind froh, dass sie uns in dem bestätigen, was wir sowieso schon wussten. Oder unpathetischer gesagt: kein anstoßendes, neues Denken kann entstehen, wenn sich der Nachdenkende nur im verstandesmäßigen Nachvollzug des Gedankens eines Anderen bewegt. Dann erdenkt er nicht das Neue eines Denkens, sondern wiederholt nur oder ordnet es in das ihm bisher Vertraute ein.

Wann geschieht aber denn das Denken, wenn nicht im verstandesmäßigen Nachvollzug? Verlässt das Denken nicht dann das Denken, um sich in einen mit nichts Vertrautem und insofern unüberprüfbaren, nebulösen Spekulieren zu bewegen? Heidegger formuliert hierzu sehr drastisch. Er sagt: Die Wissenschaft denkt nicht. Sie denkt nicht und wir denken nicht, weil unser "Denken" mit dem Verstand sich danach ausgerichtet, das vorweg schon Gewusste bestätigt zu bekommen, um es mit der Klarheit und der Überprüfbarkeit der "Wissenschaft" dann zu bestätigen.

Wann jedoch denken wir dann? Wir denken dann, wenn wir zuhören. Das ist zunächst sehr leicht und auch sehr schwer. Wann hören wir zu? Wir hören dann zu, wenn wir nicht weghören. Wir hören dann weg, wenn wir das Gehörte weg zu einem uns Bekannten tragen und es dort sicher unterbringen. Wir können dann zuhören, wenn wir das Gehörte nicht verstehen, sondern ihm nachgehen, ob es uns anspricht. Damit es uns aber ansprechen kann, bedarf es der Stille des Nichtwissens, in der es überhaupt zu uns sprechen kann und gehört werden kann. Aber was hören wir dort und inwiefern ist dies der eigentliche Raum des Denkens? Verlässt einen nicht in der Stille die Sprache? Kann man hierin überhaupt noch sprechen und hören oder bewegt sich nicht darin alles im Undenkerischen des Gefühls oder der zweifelhaften Intuition?

Um nochmals Heidegger dem Sinn nach heran zu nehmen: Die Kraft des Denkens bemisst sich an der Fähigkeit des Sichhaltenkönnens im Nichts. Die Strenge des Denkens bemisst sich an dem Grad der Möglichkeit des Zuhörenkönnens zu dem, was sich einem zuspricht. Mit diesen vielleicht zunächst befremdlich klingenden Worten bemüht sich Heidegger, als derjenige Denker des letzten Jahrhunderts, der von sich in Anspruch nimmt, am weitesten in ein neues Denken und in das Wesen der Philosophie überhaupt vorgedrungen zu sein, wenn er vom Wesen des Denkens und der Philosophie spricht - nicht seiner eigenen nur, sondern der Philosophie überhaupt. Er ist dabei bemüht, denjenigen Raum zu eröffnen, in dem ein Denken überhaupt erst geschieht. Und sein Anspruch geht dabei so weit, dass er diesen Raum für jedes Denken der Philosophie als deren eigentliche Herkunft ansieht. Jedes Denken speist sich aus einem einzigen Ort, formuliert er, um anzuzeigen, dass "wesentliches" Denken immer nur in dem Raum des Nichts geschieht.

Auch wenn die verschiedenen Philosophen ihr Denken, wenn sie es entfalten, diesen Raum vergessen können und sogar nur noch in sehr klaren, verstandesmäßigen Formeln sprechen, so liegt doch als Untergrund dahinter die denkerische Erfahrung mit einer Sache aus dem Raum des Nichts und des Nichtwissens. Sonst hätte die Philosophie nichts Neues und neu Anstoßendes denken können. Dass dieser Raum meist nicht selbst thematisiert wird, liegt an der Sache, die in ihm zugesprochen wird. Um diese hervorzubringen, versinkt das Wissen um ihre Herkunft. Oder es spricht sich etwas zu, wie die abendländische Frage nach der Wahrheit, die in sich diesen Raum verschließt, weil sie denjenigen, der sie denkt, dazu anstößt, sie als klare, allgemeingültige Wahrheit zu denken, welche wiederum den Raum des Nichts als ihre Herkunft nur auslöschen kann.

Selbst wenn man Heideggers eigenes Denken schwer nachvollziehen kann, lässt sich diese Sicht auf die Philosophie leichter fassen. Denn der nachfolgende Denker kann leichter die Herkunft des Denkens seiner Vorgänger erfassen, weil er gerade nicht dabei ist, dieses Denken hervorzubringen.

Was ist aber demnach dann der eigenartige Raum der Herkunft des Denkens? Lässt sich darüber überhaupt etwas Sinnvolles sagen, wenn er doch gerade als der Un-sinnige im Sinne des Verstandes gedacht sein soll?

Wenn das Denken aus seinen gewohnten Bahnen heraustritt und nicht mehr weiß, was es denkt oder wo es sich befindet, dann kann sich ein anderes Geschehen öffnen. Es kann sich zeigen, dass sich einem etwas zuspricht aus demjenigen, was man hört, das dessen eigene Herkunft und Bewegung darstellt. Dabei öffnet sich die "Wahrheit" einer gedachten Sache, in dem Maße, indem ich das Fremde seiner selbst und den "dunklen" Raum seiner Herkunft denkerisch erfahre. Weggerissen durch einen fremden, neuen Gedanken kann ich daran ermessen, wie weit er sich mir zuspricht, inwieweit ich selber in den fragwürdigen Raum seiner Frage versunken bin und diesen erfahre. In diesem Moment denke ich nicht mehr das Vorgetragene mit dem Verstand nach und verstehe es, sondern ich "verstehe" die Tiefe der Frage und die Notwendigkeit dieser Art von Antwort, weil ich in demjenigen Raum mich "aufhalte", indem sich derjenige aufgehalten hat, der den Gedanken gedacht hat, den ich höre. Damit nachvollziehe ich nicht historisch die Stimmung eines alten Denkers aus der Vergangenheit, sondern ich bewege mich, wie "damals" er, in demjenigen Raum des Denkens, der ihm widerfahren ist. Dieser "Raum" ist dann weder damals noch heute oder ewig, sondern ist derjenige des Augenblicks des Denkens, indem diese Weise zu denken geschieht. Diese Erfahrung des Denkens ist nicht gebunden an die allgemeinverständliche Zeit, sondern an das Geschehen von Zuspruch und Hörenkönnen und insofern an den Augenblick des Denkens.

Hierin kann sich eine Erfahrung mit dem Denken öffnen, die in die eigene Bewegung des Denkens gelangt. Diese besteht darin, dass sich dem Denken, wenn es denn geöffnet ist, in dem Bereich der Fragwürdigkeit und der Frage das zu Denkende zuspricht. Dessen Grad der Wahrheit zeigt sich im Geschehen, inwieweit ich mich einlasse auf den Raum des Nichts der Herkunft des Denkens und den Grad des Zuspruchs aus dem Nichts, der dasjenige, was sich mir zuspricht, durchstimmt, um es in Heideggers Worten zu sagen. Einfacher: Philosophie kann dann geschehen, wenn wir der gesprochenen Sache zuhören und in diesem Zuhören aus der Sache die Herkunft ihrer Frage und ihre eigene Bewegung und Wahrheit aus dieser Bewegung denkerisch erfahren.

Dadurch bildet sich ein anderes Denken als das verstandesmäßige Nachvollziehen. Es bildet sich ein denkerischer Nachvollzug, der sich in demjenigen Bereich aufhält, aus dem dieses Denken selbst geschöpft war. Und dieser Nachvollzug denkt "selber", da er von der Sache angesprochen ist und "versteht", warum sie so und nicht anders zu denken ist. Damit aber wird der Nach-Denkende in das Denken selber versetzt, anstatt ein schon einmal Gedachtes historisch nachzuvollziehen. In diesem Moment wird Philosophie Augenblick und Leben und nicht mehr wissensmäßiger Verstandesvollzug eines Bildungsgutes. Diesen Augenblick bzw. diese Bewegung kann "jeder" nachvollziehen bzw. vollziehen, da es dafür kein Wissen braucht. Im Gegenteil dieses Wissen, weil es dazu verleiten kann im Verstand zu verbleiben und verstandesmäßig nur zu vergleichen bzw. wieder zu erkennen, kann eine Erfahrung mit dem Denken auch verhindern. Im Gegensatz dazu liegt in der Möglichkeit des Sicheinlassens auf ein Denken die Möglichkeit den schöpferischen Bereich des Denkens selber denkerisch zu erfahren und von ihm angestoßen "selber" zu denken.

In diesem Bereich kann sich die Freiheit des Denkens öffnen, weil sie im Nachhören des Denkens eines Anderen in den freien Raum des Entstehens von Gedanken sich bewegt. Dieser Raum ist nicht willkürlich, sondern vielmehr sehr streng, weil er zuhört, auf dasjenige, was sich einem zuspricht. Damit wird das "schöpferische" Denken möglich, das "schöpferisch" ist, nicht weil es selber denkt, wie es immer denkt, sondern weil es aus der Quelle des Denkens schöpfen kann. Das kann es besonders durch das Zuhören des Denkens eines Anderen, weil es an diesem Denken den schöpferischen Raum des Denken, der unter diesem Denken liegt bzw. aus dem es geschöpft ist, erfahren kann.

Insofern versetzt das Zuhören eines Denkens eines Philosophen den Zuhörer, wenn er sich darauf einlässt, in denjenigen Raum, aus dem die Philosophie entspringt und versetzt den Zuhörer selber in die Möglichkeit - zu denken.

Diese Möglichkeit ist besonders durch das Zuhören eines gelesenen Textes eines Denkers eröffnet, weil durch den Vorgang des Zuhörens und Nachhörens der Zuhörer sich schon in etwas Fremdes versetzt sieht und, ganz einfach, nicht weiß, was als nächstes folgt. Durch das "äußere" Zuhören ist gleichsam das "innere" Zuhören vorgebildet. Und insofern entspricht das Vorlesen von und das Zuhören zur Philosophie ihrem eigenen inneren Wesen. Wenn das Denken der Philosophie darin besteht, dasjenige zu denken, was sich aus dem schöpferischen Bereich des Sichzusprechenden zuspricht, so ist das Zuhören die eigentliche denkerische Grundhaltung der Philosophie. Und dieses Zuhören geschah bzw. geschieht dem Denker, der vorgetragen wird, aber ebenso dem Zuhörer, der dem Gelesenen nach-hört und somit zum Denkenden wird. Deshalb kann durch das Vorlesen und Zuhören der eigentliche Raum der Philosophie eröffnet sein, der beflügelt zum Denken aus der Herkunft des Denkens.

Dr. Christian Müller, Tübingen, geb. am 13. 02. 1967 in Bernkastel-Kues, Studium der Philosophie in Freiburg bei Prof. Dr. Friedrich-Wilhelm v. Herrmann. Beschäftgungsfelder: Deutscher Idealismus und Heidegger, Veröffentlichungen zum deutschen Idealismus und zum Spätwerk Heideggers.